Wir alle kennen diese Momente, in denen die Wahrheit schwer zu sagen erscheint. Jemand zeigt uns stolz ein neues Outfit, fragt ob es uns gefällt, und obwohl wir innerlich zögern sagt man doch einfach: „Ja, sieht gut aus.“. In dieser und ähnlichen Situationen scheint eine kleine Lüge harmlos, oder vielleicht sogar freundlich und angebracht. Schließlich will man die Person nicht verletzen, sondern ein Kompliment machen, egal wie die eigene Meinung nun wäre. Doch moralisch betrachtet ist dies der Beginn eines alten Dilemmas: Ist Lügen immer falsch, oder kann es Situationen geben, in denen Unwahrheiten notwendig oder angebracht sind?
Immanuel Kant hätte eine klare Antwort darauf. Für ihn war Wahrheit keine Frage der Situation, sondern der Pflicht. In seiner Ethik gilt der kategorische Imperativ: Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Übertragen auf dieses Thema würde es bedeuten, dass wenn jeder Mensch lügen würde, sobald es ihm nützt oder leichter fällt, würde Vertrauen als Grundlage menschlicher Beziehungen zerbrechen. Kant sah also in jeder Lüge einen Angriff auf die Vernunft des Menschen und deren moralische Ordnung.
Und darin war er unüberzeugbar. Ein recht berühmtes Beispiel ist seine Meinung bei „Mörder an der Tür“: wenn ein Verbrecher nach dem Aufenthaltsort eines Freundes fragt, darf man laut Kant nicht lügen, selbst wenn man dadurch weiß, dass die Wahrheit den Freund in Gefahr bringt. Für ihn ist Moral also nicht von den Folgen abhängig, sondern alleine von der reinen Absicht, das moralisch Richtige zu tun. Es gibt also nur zwei Parteien, entweder man bleibt bei der Wahrheit, oder man verrät sie.
So streng wie diese Position eigentlich wirkt, hat sie auch etwas beindruckendes: Sie schütz vor Beliebigkeit. Kants Denken verlang, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es quasi unbequem ist. Aber es fühlt sich gleichzeitig im Alltag oft unpraktisch an. Denn das Leben ist nicht so klar gezeichnet wie es bei den Philosophen manchmal scheint. Es gibt Momente, in denen die Wahrheit mehr zerstört als aufklärt, in denen Ehrlichkeit also als Waffe dargestellt werden kann. Und genau in diesen Momenten stellt sich die Frage, ob moralische Prinzipien starr bleiben dürfen, wenn sie den Menschen verletzen, den sie eigentlich schützen sollen.
Ich persönlich sehe das ähnlich. Ich glaube, dass es „notwendige Unwahrheiten“ gibt. eine Lüge, die niemandem schadet, sondern jemanden eine Situation leichter macht, kann menschlich und moralisch richtig sein. Wenn ich jemandem sage, dass mir etwas gefällt, obwohl es mir in Wahrheit egal ist, mache ich es ja nicht, um mich selbst zu schützen, sondern um den anderen nicht zu verletzen. Das ist keine Täuschung aus Egoismus, sondern ein Versuch, Rücksicht zu nehmen. Für mich entscheidend ist warum jemand lügt, nicht ob er es macht.
Natürlich darf man es nicht übertreiben. Lügen können Beziehungen toxisch machen, wenn sie zu Gewohnheit werden oder Vertrauen ersetzen. Aber es gibt eine Art Mitgefühl, die ohne kleine Beschönigungen kaum möglich wäre. In der Kommunikation liegt immer ein Stück Diplomatie, und die ist selten 100% wahr. Ehrlichkeit erfordert ein bestimmten Umgang, sonst kann es ebenso schnell schmerzhaft werden für betroffene Personen. Vielleicht ist das die Balance, die Ethik im Alltag wirklich fordert: wahrhaftig bleiben, ohne zu verletzten. Lügen sollten nie leichtfertig sein, aber auch nicht direkt verurteilt werden. Kant hätte das wahrscheinlich abgelehnt, doch gerade, weil wir Menschen keine reinen Vernunftwesen sind, sondern fühlende, verletzliche Menschen, wird Moral doch erst interessant.
Am Ende bleibt: Nicht jede Lüge ist gerechtfertigt, aber manche Wahrheiten sind zu verletzend, um sie direkt auszusprechen. Die Menschlichkeit einer Person liegt meiner Meinung nach darin, zu wissen, wann Schweigen oder eine kleine Unwahrheit mehr Wahrheit enthält, als das was man tatsächlich sagt.
Quellen: Jans Timmermann (2000) – Kant und die Lüge aus Pflicht
Andreas Pollmann (2021) – Ein Menschenrecht auf Wahrheit? Ferdinand von Schirachs Vorschlag „neuer“ Menschenrechte im Lichte von Immanuel Kants Lügenverbot.
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