„Knapp 2000 Corona-Fälle in Schottland lassen sich nach offiziellen Angaben in Verbindung mit Spielen der Fußball-Europameisterschaft bringen. Zwei Drittel von 1991 positiv Getesteten seien Fans, die entgegen der Ratschläge aus dem Norden zu Spielen nach London gereist seien, wie die Gesundheitsbehörde Public Health Scotland am Mittwoch mitteilte. Am 18. Juni hatten die Schotten in London gegen England gespielt. Wie die britische Zeitung The Guardian berichtet, wurden für das Spiel 2600 von insgesamt 22.500 Tickets an schottische Fans verkauft. 15 Prozent, also knapp 400 schottische Fans seien infiziert im Stadion gewesen, während Tausende weitere Fans in der Innenstadt Straßen und Plätze bevölkerten.“
Diese und ähnliche Schlagzeilen gingen die letzten Tage um die Welt. Nicht nur Schottland veröffentlicht erneut steigende Zahlen, auch Finnland und weitere Länder meldeten neue Corona-Fälle, die in Verbindung mit der Europameisterschaft stehen. Dies ist ein weiterer Rückschlag im Kampf gegen das Corona-Virus. Daher muss man sich die Frage stellen, ob die Zulassung von Zuschauern bei dem europaweiten Turnier im Kontext der aktuellen Lage moralisch vertretbar ist.
Im ersten Moment könnte man zu dem Urteil gelangen, dass die Genehmigung von tausenden Zuschauern, die aus ganz Europa zusammenkommen, während der Pandemie verantwortungslos und unmoralisch sei. Es sei nicht zu rechtfertigen, dass Zuschauer von Land zu Land fliegen und dabei das potentiell mitgebrachte Corona-Virus übertragen, während man doch gleichzeitig überall versucht die Ausbreitung des Virus mit allen möglichen Einschränkungen in der Zivilgesellschaft einzudämmen. Hier könnte mein Blogbeitrag bereits sein Ende finden, doch meiner Meinung nach kann man die Antwort auf diese Frage nicht so vereinfachen. Es müssen weitere Aspekte und Hintergründe miteinbezogen werden, auf welche ich im Folgenden eingehe.
EM als Lichtblick
EM 2020 – ausgefallen bzw. verschoben aufgrund des Corona-Virus! Diese Nachricht war nicht nur für große Fußballfans schwer zu verkraften. Sowohl die EM als auch die WM sind Turniere, die viele Menschen aus ganz verschiedenen Ländern verbindet. Es kommt eine Stimmung auf, die sogar Menschen, die nicht an Fußball interessiert sind, die Spiele verfolgen lässt. Den ein oder anderen veranlasst es sogar, ein Stadion zu besuchen, um seine Heimatmannschaft anzufeuern. Umso mehr ist die nachgeholte Europameisterschaft in diesem Sommer eine Art „Lichtblick zur Normalität“. Ich selbst kann als ehemalige Fußballspielerin und Fußballfan aus eigener Erfahrung sprechen. Gemeinsam mit Freunden und Familie die deutsche Nationalmannschaft anzufeuern, mitzufiebern, zusammen zu feiern, das gab mir ein Stück Freiheit- und Sommergefühle zurück. Vor allem, wenn man sich von den tosenden Zuschauermengen im Hintergrund wieder anstecken lassen kann und nicht die Anweisungen der Trainer an die Spieler die einzige Geräuschkulisse ist. Eine halbwegs normal ablaufende Europameisterschaft mit Zuschauern, kleineren Public Viewings etc. gibt einem ein bisschen Normalität und Stabilität zurück in dieser abnormalen Pandemiezeit.
Aber nicht nur der persönliche und soziale Bereich ist zu beachten, sondern auch der wirtschaftliche Aspekt spielt eine Rolle. Eine so große internationale Veranstaltung ist ein enormer ökonomischer Faktor, auf den viele Branchen setzen. Beginnend bei den Ticketverkäufen, allerlei Textilwaren, verschiedensten Lebensmitteln mit EM-Marketing, Fanartikeln, über die Gastronomie bis hin zum Turnierausrichter „UEFA“ verdienen sehr viele Unternehmen an so einem Event. Wenn die EM nur eingeschränkt zugelassen werden würde, ginge dies mit großen Einkommensverlusten einher. Da die Europameisterschaft nun aber weitestgehend wie gewohnt abläuft, machen auch alle mitwirkenden Branchen einen entsprechenden Umsatz.
Chance als Experiment
Die Organisatoren hätten bei so einem wichtigen und einflussreichen Vertreter der Großveranstaltungsbranche ein Vorbild sein und vernünftige, klar definierte, einheitliche Vorgaben ausarbeiten können. Dies hätte als Großversuch für andere Events dienen können. Es gab bereits Testveranstaltungen, die mit sinnvollen Hygienekonzepten gut funktioniert haben. Zum Beispiel wurden große Musikfestivals in den Niederlanden ausgetragen, die einem klar strukturierten Konzept folgten wodurch es kaum zur Verbreitung von Covid-19 kam. Genau so eine Art Experiment hätte die Europameisterschaft auch sein können. Doch leider wurde diese Chance von der UEFA verpasst. Stattdessen wurde den Ländern die Erarbeitung eigener Hygienestandards überlassen, nach der Devise „Legt ein Konzept fest dessen Konsequenzen ihr verantworten könnt“. Das Problem ist, dass es dabei um den Schutz der Bevölkerung geht und diese Herangehensweise daher verantwortungslos ist. Die Europameisterschaft hat, sowohl bei gutem, als auch bei schlechtem Ausgang, Auswirkungen auf alle anderen Großveranstaltungen. Im Gegensatz zur UEFA können es sich jedoch die meisten Veranstalter nicht leisten einen weiteren Sommer ohne das Austragen ihrer Events durchzustehen. Die durchaus wahrscheinliche Konsequenz der EM ist, dass sich die hochansteckende Delta-Variante immer weiter ausbreitet, was sich wiederum fatal auf die ganze Welt auswirken würde. Die gerade sinkenden Fallzahlen würden wieder sprunghaft ansteigen und die allmählig gelockerten Maßnahmen würden sofort wieder verschärft werden. Ab dem Punkt muss man sich fragen, welchen Stellenwert Fußball wirklich einnimmt. Ist dieser Sport so viel wichtiger als andere Bereiche der Kultur, Bildung, Existenzen und Gesundheit? Oder um es überspitzt aber dennoch prägnant auszudrücken: „Wie viele Zuschauer im Stadion sind der UEFA ein Menschenleben wert?“. Darauf gehe ich später noch einmal ein.
Keine einheitlichen Regelungen
Wie schon im vorherigen Abschnitt angeschnitten, gibt es ein Problem mit der gesamten Thematik „einheitliche Regelungen“. Es ist kein länderübergreifendes einheitliches Hygienekonzept vorhanden, welches verbindlich für alle Austragungsorte gilt. Während in Glasgow und Baku beispielsweise keine Testpflicht besteht, muss in Amsterdam ein negativer Test vorgelegt werden. In Bukarest dagegen wird nur von ungeimpften ein Test verlangt. Die Problematik hierbei ist, dass nicht alle Impfstoffe überall gleich zugelassen sind. Zum Beispiel der Impfstoff Sputnik-V ist in der EU aufgrund von mangelhafter wissenschaftlicher Fundierung nicht zugelassen, in Ungarn jedoch schon. So muss man sich doch fragen, inwiefern man sich auf die Regelungen verlassen kann, wenn sie so unterschiedlich sind. Auch die Inzidenz-Werte werden bei diesen Maßnahmen völlig außer Acht gelassen. Jedes Land beschließt sein Konzept einfach nach eigenem Ermessen. Jedoch wurde die Option Spiele, aufgrund der Ansteckungsgefahr, unter Ausschluss der Zuschauer durchzuführen von der UEFA kategorisch ausgeschlossen. Dadurch wurden Städte wie Dublin und Bilbao, die keine Spiele vor Zuschauern garantieren konnten, als Austragungsstätte gestrichen. Diese Maßnahme übt auf andere europäische Städte einen großen Druck aus. Wenn diese in ihren Stadien keine Zuschauer garantieren, werden diese einfach nicht als Austragungsorte zugelassen. Aus diesem Grund entstanden Spiele, wie in Budapest mit maximaler Auslastung von 61.000 Zuschauer, zwar mit verpflichtendem Covid-Test oder Impfnachweis, aber ganz ohne Maske.
Frage der Solidarität
Nun zum letzten, aber wichtigsten Aspekt, der zuvor schon angeklungen ist. Die Frage nach der Solidarität. Hierzu ein Beispiel aus England: Der Flugzeugmechaniker Richard Morris musste, nachdem er sechs Monate in den Philippinen gearbeitet hatte, da er wegen Corona keine Arbeitsstelle in seiner Heimat gefunden hat, nach seiner Ankunft in England 10 Tage in Quarantäne. Er wurde in einem sehr heruntergekommenen Hotel untergebracht, was für ihn für 10 Tage 2000 Euro gekostet hat. Dagegen dürfen zeitgleich Fußball-VIPs ohne Quarantäne durchs Land reisen. Das klingt in meinen Ohren äußerst unsolidarisch und unfair. Morris muss aus Jobgründen reisen und muss sich in Quarantäne begeben, während König Fußball die Ausnahme sein darf. Viel gravierender sind jedoch die potentiellen Negativfolgen der reisenden Zuschauer. Folgende Hypothese habe ich bereits oben schon einmal kurz skizziert, aber nun gehe ich tiefer darauf ein. Durch mangelnde Maßnahmen verbreitet sich die Deltavariante schneller durch die Zuschauer in allen europäischen Ländern, was zu erneut verschärften Corona-Regeln, bzw. ein weiterer Lockdown. Wegen einigen wenigen, die für kurze Zeit Freiheit und Freude empfunden hatten, müssten dann viele zurück in Homeoffice, Homeschooling, Treffen würden verboten werden und Läden und Gastronomien müssten erneut schließen. Neben diesem ökonomischen und dem sozialen Aspekt kommt ein weit wichtigerer dazu, unsere Gesundheit bzw. unser Leben. Es ist nicht unbekannt, dass Covid- Erkrankungen sehr schwer und mit Langzeitfolgen verlaufen können oder sogar bis zum Tod führen. Mit den Fachbegriffen des Utilitarismus beschrieben; diese Handlung ist als unmoralisch zu bewerten, da sie das kurze Glück weniger, aber zugleich das langfristige Leid vieler beinhaltet.
Fazit
Nachdem ich mich nun intensiv mit dieser Frage beschäftigt habe, komme ich zu meinem persönlichen Fazit. Meiner Meinung nach ist es nicht generell unmoralisch, Zuschauer bei der Fußball-Europameisterschaft zuzulassen, wenn die Umsetzung den Umständen entsprechend stattfindet, was jedoch bei der EM dieses Jahr von der UEFA nicht verantwortungsvoll gehandhabt wird. Ich glaube die Frage sollte eher lauten, unter welchen Voraussetzungen es moralisch vertretbar ist, Zuschauer bei der Europameisterschaft zuzulassen und nicht im Generellen. Die Europameisterschaft hätte, wie oben schon erörtert, eine große Chance für zukünftige Großveranstaltungen sowie ein wirklicher Lichtblick in Richtung Normalität und mehr Freiheiten sein können. Nun jedoch stehen wir an einem Punkt, an dem Großveranstalter, Clubbesitzer und junge Menschen in England demonstrieren gehen, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Fußball hat definitiv einen wichtigen Stellenwert in Europa, doch es zwingt sich die Frage auf, ob es nicht zu sehr bevorzugt wird. Ist Fußball und die Freiheit der Fans wirklich wichtiger als die Gesundheit vieler?! Es ist eine schöne Sache Fußballspiele im Stadion anzuschauen, aber den Meisten ist das Risiko und der damit verbundene Preis im Kontext von Corona bewusst? Es kann sein, dass diese Europameisterschaft eine neue Corona-Welle erzeugt. Es kann auch sein, dass es nicht so ist, alles Spekulation. Wäre es aber nicht moralisch verwerflich, wenn hunderte Millionen Personen, die nach über einem Jahr Einschränkungen langsam in die Normalität zurückkehren, wieder Beschränkungen oder einen Lockdown ertragen müssen, nur weil ein paar tausend Zuschauer ausgelassen ein paar Fußballspiele zelebriert haben und temporär etwas Freiheit zurückbekommen haben. Meiner Meinung nach, widerspricht das völlig der Definition von Solidarität. Mir ist bewusst, dass sich das ziemlich pauschalisiert und heruntergebrochen anhört, aber wenn man es ganz rational betrachtet ist das der Fakt. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, kein Virologe, der die Folgen abschätzen kann, kein Fußballspieler, der die Unterstützung seiner Fans vielleicht benötigt. Ich kann nur aus meiner Perspektive als Schülerin sprechen. Es wäre sehr bedauerlich, wenn ein solches Event, was eigentlich eine positive Ausstrahlung und Hoffnung auf Normalität sein soll, der Grund für eine weitere Corona-Welle ist.
Was ist deine Meinung zu diesem Thema?
Quellen
Allgemein: https://www.swr.de/wissen/fussball-em-mit-publikum-in-corona-zeiten-100.html
Geltende Corona Regeln in den verschiedenen Stadien und Länder:
https://www.ispo.com/know-how/uefa-euro-2020-und-corona-diese-regeln-gelten-fuer-fans
https://ezeitung.swp.de/suedwestpresse/crailsheim/2021-07-03/2/-57852005.html
Ganz aktuell:
https://www.derstandard.at/story/2000127912729/die-uefa-wankt-von-einem-desaster-ins-naechste
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