Marx: Aktuell oder doch passé?

Am 5. Mai 2018 jährte sich der Geburtstag des Philosophen Karl Marx zum 200. Mal. Umstritten ist er immer noch. Manche bewundern seinen Weitblick, andere geben Marx die Schuld an kommunistischen Diktaturen. Aber ist seine Philosophie fast 140 Jahre nach seinem Tod überhaupt noch relevant, geschweige denn legitim? Im Folgenden werde ich versuchen diese durchaus komplexe Frage zu beantworten.
Marx, der im persönlichen Umgang mitunter schwierig gewesen sein soll, zählt sicher zu den berühmtesten Deutschen. In allen Teilen der Welt haben sich die Revolutionäre auf ihn berufen , oft vermutlich, ohne seine Theorie verstanden, geschweige denn überhaupt gelesen zu haben. In seinem Namen ist viel Unrecht beseitigt worden , und neues, womöglich teilweise noch schlimmeres geschaffen worden. Trotzdem hätte uns Karl Marx heute noch etwas zu sagen.
Zunächst einmal ein klares Ja: Der Marxismus hat heute noch eine Bedeutung. Es ist aber nicht so, wie manche selbsternannte Marxisten meinen, dass die Aussagen seiner Bücher auf die Gegenwart übertragbar wären, seine Methoden und Theorien insofern aktuell oder gar bewiesen wären. Die große historische Leistung von Karl Marx besteht darin, dass er die Schattenseiten des aufstrebenden Kapitalismus, die ungleiche Vermögensverteilung, die Ausbeutung und Ausnutzung der Arbeiter bewusst gemacht hat. Seine Antwort darauf war der Klassenkampf, die Aufforderung an alle Unterdrückten, sich zusammenzuschließen und auf die irgendwann notwendigerweise kommende Umwälzung zu vertrauen. Insofern bot Karl Marx für die Schwachen und Gepeinigten eine Art Religionsersatz, eine Lehre, die ihnen Hoffnung machen konnte auf einen aus seiner Sicht zwangsläufigen Wechsel zu Sozialismus und Kommunismus. Der Kapitalismus, so lautete seine Lehre, geht irgendwann natürlich zugrunde, als historische Gesetzmäßigkeit. Aber die Abhängigen hätten den Auftrag, sich für die Umschwung zu einer neuen Zeit ständig zu rüsten. Das Marx’sche Klassenmodell ist geeignet, gravierende Machtunterschiede und Benachteiligungen erkennbar zu machen. Es überspitzt, teilt in Freund und Feind, vereinfacht und generalisiert. Damals, als er seine Werke schrieb, mag das eine Bereicherung gewesen sein – Marx befreite die Philosophie von abgehobenen, lebensfernen und die Probleme der Menschen vernebelnden Diskussionen. Gleichzeitig schuf er mit Dialektik und Materialismus ein Modell zur Erklärung der Verhältnisse. Das half, die wirklichen Sorgen und Nöte der Leute in den Mittelpunkt der Wissenschaft und der Politik zu rücken. Trotzdem war dieser Ansatz nicht nur segensreich. Mit der Dialektik wurde eine neue Glaubenslehre geschaffen: Er sagte den Geknechteten, dass ihnen irgendwann bessere Zeiten bevorstünden. Mit dem Materialismus wurde zugleich eine gefährliche Abwertung des politischen Diskurses verknüpft: Für Marx kam es allein auf die Produktionsverhältnisse und die Eigentumsverhältnisse an. Wer etwas besitzt, hat Macht über andere. Besitz- und Machtverhältnisse waren für ihn entscheidend, alles andere wollte er nur davon ableiten. Er teilte nach der ökonomischen Rolle in Klassen ein. Die bösen Kapitalisten hier, das gute Proletariat dort. Und er sprach von der „Diktatur des Proletariats“, also davon, dass „die da unten“ sich über „die da oben“ erheben sollten, also wie in einem Rollentausch. Wenn das Eigentum an Fabriken und die Herrschaft über die Arbeitsverhältnisse neu verteilt würden, dann werde das Leben für alle besser. Denn für Marx bestimmte das Sein das Bewusstsein. Ob einer gut oder schlecht war, hing von seiner ökonomischen Rolle ab, von seinem Stellenwert im Arbeitsprozess. Zur Interpretation von gesellschaftlichen Verhältnissen ist diese Sichtweise vorteilhaft, ermöglicht sie es doch, hinter die Kulissen vorgeblicher großer Gedankengebäude zu blicken. Zugleich bedeutet sie aber eine Geringschätzung des intellektuellen Disputs, des Widerstreits unterschiedlicher Ansichten. Mag sein, dass dies jetzt arg vereinfacht geschildert wird. Aber jede komplizierte Theorie, die an wichtigen Stellen Unklarheiten und grobe Verzerrungen zulässt, ist eben gefährlich. Wie gefährlich die Theorie von Marx war, zeigte sich in der Blutherrschaft der Bolschewisten, vor allem unter Stalin, in der Sowjetunion, später auch in China unter dem Massenmörder Mao, später in anderen Teilen der Welt. In Nordkorea und Venezuela berufen sich undemokratische Herrscher auf ihn. Die ganzen Errungenschaften der aufgeklärten Philosophen vor Marx, die Gewaltenteilungslehre von Montesquieu, die Ethik von Kant, die Erkenntnistheorie von Locke, hat der Urvater der modernen Kommunisten beiseite gewischt. Die Bürgerrechte, die Regeln der Demokratie und des Parlamentarismus – sie mussten wertlos werden, wenn es nur noch darum ging, die herrschende Klasse durch die beherrschte Klasse zu ersetzen, und wenn dazu Gewalt als legitimes Mittel angesehen wurde. Es lag auch an Marx, dass ein Lenin seine Theorie daran anknüpfen konnte – eingesetzt zur zu dem Zweck, seiner Clique von Gleichgesinnten mit möglichst eingängigen Erklärungen den Aufstieg zur Herrschaft zu ermöglichen. Die Marxisten mögen Marx ebenfalls zugutehalten, dass es ohne ihn vermutlich keine starken Arbeiterparteien in Europa gegeben hätte, kein einigendes Band für jene, die sich Sozialisten oder auch Sozialdemokraten nennen. Ohne solche Parteien eben herrschte hierzulande vermutlich der Kapitalismus pur, nicht die soziale Marktwirtschaft. Dass SPD wie Union als „sozialdemokratische“ Parteien eingestuft werden, hängt auch mit den Folgen des Wirkens von Marx zusammen. Aber es gibt auch die Negativ-Bilanz, die erwähnt werden muss. Der Aufbruch der „68er“ vor fünfzig Jahren förderte eine Bewegung, die zutiefst intolerant und dogmatisch agierte, ganz so, als fühle man sich nicht nur im Besitz der alleinigen Wahrheit, sondern habe zudem auch noch die Freiheit der Wahl aller möglichen Mittel. Ist der Dogmatismus der Marx’schen Thesen daran schuld? Bedingt, denn wenn seine Theorie verträglicher, toleranter, aufgeklärter gewesen wäre, dann hätten die revoltierenden Studenten damals womöglich jemand anders als Vorbild gewählt. Immerhin: Sie zogen ja auch nicht mit Marx-Rufen durch die Straßen, sondern skandierten „Ho-ho-ho-Chi-Minh“. Ja, das ist nun eine Folge des Klassenkampfes. Der Diktatur aus Vietnam war nun mal der Feind des Feindes, der USA, und damit ein Guter. An dieser Denkweise jedenfalls kann man Marx schon eine Mitschuld attestieren. Ökonomisch lag Marx unterm Strich ebenso falsch. Das kapitalistische System erwies sich als wandelbar, die Demokratie erzwang eine Gesetzgebung, die auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmerschaft abgestimmt war. Zusammengebrochen sind – bis auf einige – die Systeme, die sich auf Marx beriefen und im Namen der „Diktatur des Proletariats“ ihre Herrschaft rechtfertigten. Ein großer Denker war Marx fürwahr, ein leuchtendes Vorbild? Sicherlich nicht. Karl Marx war ein wichtiger deutscher Philosoph und Ökonom. Aber er war auch Antisemit und Wegbereiter grausamer Diktaturen. Nach Meinung vieler tauge er deshalb als Vorbild nach wie vor nicht. Des Weiteren gab Marx damals den Schwachen eine Stimme und machte im beginnenden Kapitalismus auf Unrecht aufmerksam. Manches ist heute noch lesenswert, zum Beispiel seine Warnung vor Disproportionalitäten, wenn sich der Wert von der materiellen Realität abkoppelt. Anderes muss heute revidiert werden. Der Preis eines Artikels wird eben nicht wie von Marx beschrieben allein vom enthaltenen Arbeitseinsatz widergespiegelt. Das gehört aber in den rein ökonomischen Diskurs. Für Marx‘ gesellschaftliche Bedeutung müssen auch die Folgen seines Wirkens und der Philosoph selbst in Augenschein genommen werden. Und hier dürfte vielen nicht gefallen, was dabei zu sehen ist. Zudem war Marx kein Freund der Freiheit, er war ein Befürworter der Diktatur. Für Marx war der Klassenkampf ein zentrales Element, die verhasste Bourgeoisie sollte unterdrückt werden. Auch wenn Marx, anders als Che Guevara, das Gewehr nicht selbst in Hand nahm, hat er in seinen Schriften Gewalt und Unterdrückung propagiert. Marx war kein Freund der Freiheit, er war ein Befürworter der Diktatur. Das Proletariat solle als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufheben, schrieben Marx und Engels 1848. Für Marx war der Klassenkampf ein zentrales Element, die verhasste Bourgeoisie sollte unterdrückt werden. Damit war er eben doch ein totalitäres Vorbild für Lenin, Stalin oder auch Mao. Es hatte seine Gründe, warum Marx in Zeiten der Teilung Deutschlands in Ost und West auf beiden Seiten unterschiedlich gesehen wurde. Die westliche Skepsis gegenüber dem Philosophen aus Trier ist auch fast 30 Jahre nach dem Mauerfall angebracht. Sein Klassenmodell ist zudem auf das heutige Deutschland so nicht mehr übertragbar, auch wenn die politische Linke das nach wie vor propagiert und immer noch in Klassen denkt. Marx hat mit einer sozialen Marktwirtschaft nicht das Geringste zu tun. Noch unschöner wird es, wenn man sich dem Menschen Karl Marx nähert. Denn er war nicht nur ein aggressiver Schmarotzer mit chronischen Geldsorgen und privat wenig vorbildlich oder gar fürsorglich. In seinen Schriften findet sich auch immer wieder Antisemitismus. Seine Rezension „Zur Judenfrage“ nannte Hannah Arendt ein klassisches Werk des Antisemitismus der Linken. Und an den Schriftsteller Arnold Ruge schrieb Marx: „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf.“ Wie antisemitisch Marx war, wird in der Wissenschaft bis heute kontrovers diskutiert. Frei von Schuld ist er aber auf jeden Fall nicht. Karl Marx bleibt eine umstrittene Person der deutschen zeit- und Kulturgeschichte. Respekt ist auch heute noch vor seinem Werk angebracht. Eine größere Relevanz sollte ihm aber nicht zuteilwerden. Vielleicht sollten wir genau deshalb anfangen über eine Art „Sozial-Kapitalismus“ nachzudenken.

Quellen:
– Brockhaus Enzyklopädie Band 6 NAZ-MIZ (S.399-320) Leipzig Baden Baden Brockhaus GmbH
– https://www.youtube.com/watch?v=fvtq8zyYpqs
– https://www.youtube.com/watch?v=fjtHD2xNhok
– https://www.youtube.com/watch?v=pQNR0cgd5bg
– https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Marx-Statue_(Trier)
– https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fgesellschaft%2Fzeitgeschehen%2F2018-05%2Ftrier-200-geburtstag-karl-marx-statue-enthuellung
– https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fentdecken%2Freisen%2Fmerian%2Fkarl-marx-denkmal-geburtsstadt-trier-kapital
– https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/

1 Kommentar

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Ich persönlich finde, dass Marx immer noch in bestimmter Hinsicht, Bedeutung trägt. Er setzte die ersten „sozialen“ Maßstäbe, die in manchen Teilen jedoch sehr radikal wirken. Außerdem war er einer der ersten, der sich für die Internationale Solidarität aussprach. Noch heute entsprechen NGOs, wie z.B. Ärzte ohne Grenzen diesem Prinzip, und führen die „soziale Idee“ fort. Jedoch bin ich nicht davon überzeugt, dass sein Einfluss „nur“ positiv ist. Er ist in Teilen dafür verantwortlich, dass grausame Diktaturen, wie z.B in der UdSSR, entstanden sind und sich auf seine radikalisierten Thesen beriefen. Jedoch könnten wir heute immer noch insofern von seinen „sozialistischen“ Thesen profitieren, in dem wir uns bewusst werden, wie wir miteinander umgehen, und wie wir Gerechtigkeit empfinden, vor allem in Zeiten des „egoistischeren“ Kapitalismus. Ein Umdenken wäre nötig.

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