Vom Mythos der Leistungsgerechtigkeit

Deutschland zählt im internationalen Vergleich zu den ungleichsten Ländern. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß der Verteilung. Liegt er bei 1 so konzentriert sich der gesamte Besitz auf eine Person, befindet er sich bei 0 so besitzt jeder gleich viel. Bei der Verteilung von Einkommen liegt der Gini-Koeffizient bei 0,3. Die Verteilung von Vermögen fällt mit 0,76 deutlich ungleicher aus. In Deutschland ist das Gesamtvermögen der fünf reichsten Milliardär*innen seit 2020 um rund drei Viertel gestiegen. Gleichzeitig leben laut dem Armutsbericht vom Paritätischem Wohlfahrtsverband über 14 Millionen Menschen in Armut. – Diese Entwicklungen werden häufig mit dem Konzept der Leistungsgerechtigkeit gerechtfertigt.

Was ist Leistungsgerechtigkeit und lassen sich die Entwicklungen so einfach rechtfertigen?

Hinter Leistungsgerechtigkeit verbirgt sich die Vorstellung, dass Menschen die mehr Leistung erbringen auch entsprechend höher entlohnt werden sollen als diejenigen, die weniger leisten. Prinzipiell scheint dieses Konzept auch logisch und gerecht. Doch bereits die Frage nach der Definition von Leistung kann die Rechtfertigung von Ungleichheit durch Leistungsgerechtigkeit in ein zweifelhaftes Licht rücken. Was ist Leistung? Wie kann Leistung gemessen werden? Leistet ein Manager mehr als eine Krankenschwester? Leistet eine Putzfrau so viel weniger als eine Bankangestellte? Wiegt körperlich oder mental verrichtete Leistung mehr? Ist Care-Arbeit nicht auch Leistung? Und wieso wird dann niemand dafür bezahlt?

Voraussetzung für Leistungsgerechtigkeit ist Chancengleichheit. Leistungsgerechtigkeit kann nur dann bestehen wenn wir alle die selben Möglichkeiten besitzen die selbe Leistung zu erbringen. Leistungsgerechtigkeit besteht, wenn nicht die Umstände, unter denen wir leben, sondern unsere eigenen Bemühungen, unsere erbrachte Leistung bestimmen.

Die Realität zeigt, dass Chancengleichheit momentan nicht besteht und vermutlich niemals bestehen wird. Unterschiedliche Studien bestätigen beispielsweise das Menschen, die einen Migrationshintergrund besitzen oder einen Namen, der auf einem Migrationshintergrund schließen lässt, deutlich schlechtere Chancen haben eingestellt zu werden. Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen besitzen ebenfalls schlechtere Chancen als Andere. In Deutschland und auch im internationalen Vergleich erfahren wir alle unterschiedlich gute Bildung und erhalten somit unterschiedlich gute Chancen für das spätere Berufsleben, insbesondere deshalb weil jede Lehrkraft unterschiedlich effektiv unterrichtet. Die Eltern, die uns erziehen, das Umfeld, in dem wir heranwachsen, die Generation, innerhalb der wir aufwachsen, haben alle Einfluss auf unsere Chancen. Günstiger oder ungünstiger, aber trotzdem unterschiedlich. Die Conditio sine quo non für Chancengleichheit ist folglich, dass wir alle dieselbe Person sind, also die gleiche DNA besitzen, von den selben Eltern zur selben Zeit am selben Ort erzogen werden und die selben Erfahrungen machen, damit wir alle gleich stark nicht beziehungsweise eingeschränkt sind. Nur dann hätten wir die selben Chancen. Sobald eine weitere Generation folgen würde, wäre die Chancengleichheit erneut nicht gegeben. Bei dem Konzept der Chancengleichheit handelt es sich um eine utopische Vorstellung, die aber nicht erreicht werden kann. Die Leistungsgerechtigkeit verliert ihre Grundvorraussetzung und wird zu einem Mythos.

Quellen

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/ungleichheit-2022/512778/wie-ungleich-ist-die-welt (28.05.2024)

https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-20845.htm (28.05.2024)

https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-ist-deutschland-ein-ungleiches-land-3658.htm (28.05.2024)

https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/soziale-ungleichheit (28.05.2024)

1 Kommentar

Kommentieren →

Hallo e.s.friedman,
Du hast dein sehr interessantes Thema wirklich gut erörtert und schlüssig dargelegt.
Ich stimme dir zu, dass ohne eine gegebene Chancengleichheit, die Leistungsgerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft erst garnicht zustande kommen könnte. Dies liegt daran, dass auch in einer Welt in der „Leistung“ objektiv erfasst werden könnte und danach entsprechend vergütet werden würde, dies keinen Sinn hat, wenn nicht jeder die gleichen Chancen besitzt diese Leistung auch erbringen zu können. Gleichzeitig entsteht durch diese Voraussetzung schon eine Ungerechtigkeit der Leistungsgerechtigkeit selbst, da, wie du bereits erwähntest, nicht jede Person mit den gleichen kognitiven und körperlichen Attributen geboren wird, wodurch auch unabhängig von menschlicher Diskriminierung und Vorurteilen nicht die Möglichkeit besteht, dass jeder die gleiche Leistung erbringen kann. Jedoch stellt sich mir immer noch die Frage, wie der Begriff „Leistung“ selbst zu definieren ist, da du dies offen ließt. Meines Erachtens ist die Antwort hierzu sehr vielschichtig und nicht mit einer eindeutigen objektiven Definition zu erklären, beziehungsweise zu messen. Beispielsweise könnte man das Konzept der Leistung durch „das Maß, wie stark die Gesellschaft von einem Akt profitiert“ definieren. Dies aber zu messen würde sich als sehr schwierig und subjektiv erweisen.
Abschließend lässt sich sagen, dass du deine Thesen und Argumente logisch gut aufgebaut und begründet hast und ich diesen auch zustimme.

Schreibe einen Kommentar