Herrscht in Deutschland soziale Gerechtigkeit?

„Die Mehrheit der Deutschen hat das Gefühl, es gehe im Land nicht gerecht zu“. Dies äußert Dr. Kai Unzicker in seinem Artikel über das Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland. Selten ist ein Begriff so umstritten und sorgt für große Meinungsverschiedenheit.

Soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass die Lebens­bedingungen, die Chancen und Möglichkeiten für alle Menschen in einer Gesellschaft annähernd gleich sein sollten. Doch dies zu gewähr­leisten, ist bei gut 82 Millionen Einwohnern in Deutschland gar nicht so einfach. Oft führt dieses Gesprächsthema zu Streit, da jeder seine eigene Meinung dazu hat. Daher gibt es hierbei auch kein „richtig“ oder „falsch“. Soziale Fragen sind dem gesell­schaftlichen Wandel unterworfen. Einen objektiven Maßstab gibt es für soziale Gerechtigkeit also nicht.                                                                                                    

Die Wissenschaftler*innen Irene Becker und Richard Hauser von der Universität Frankfurt haben ein Modell erstellt, das den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ in vier Dimensionen einteilt, Chancengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit. Die vier Aspekte bedingen einander und stehen teilweise im Konflikt. Deshalb spricht man auch von einem „magischen Viereck“, denn es lassen sich nicht alle Ziele gleichzeitig erreichen.

Unter Chancengerechtigkeit versteht man gleiche Möglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen, die eigene Individualität auszuleben. Das bedeutet, dass alle die gleichen Rechte haben – unabhängig von Herkunft, sozialem Status, Geschlecht, Alter, Behinderung oder kulturellem Hintergrund.

Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass Menschen so viel erhalten, wie sie leisten. Ungleiche Löhne sind also leistungsgerecht. Durch die Leistungsgerechtigkeit hat man sein Schicksal selbst in der Hand, da der Lohn von der eigenen Leistung abhängt. Es ist somit möglich, sich selbst bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Wenn die Verteilung dem objektiven Bedarf der Menschen gerecht ist, bezeichnet man das als Bedarfsgerecht. Hierbei bekommen Menschen alles nach ihrem Bedarf und es wird großen Wert auf die Hilfe für Kranke und sozial Schwache geachtet. Hinter Generationengerechtigkeit verbirgt sich das Ziel so zu leben, dass es keine negativen Folgen für nachfolgende Generationen hat. Junge und alte Menschen müssen demnach einen Weg finden, Ressourcen, Lasten und Pflichten fair zu verteilen.                                                                                     

Um Gerechtigkeit in Deutschland insgesamt erfassen zu können, muss man sich also die vier Gerechtigkeitsdimensionen anschauen. Denn gerecht ist es nur dann, wenn alle Kriterien erfüllt werden. Fakt ist, dass Deutschland im internationalen Vergleich im Gesamtranking Platz sieben erreicht hat. Mit anderen Worten: Deutschland schneidet in allen Bereichen relativ weit oben ab, liegt also immer unter den Top Ten bei jeder Gerechtigkeitsdimension. Ein weiterer Fakt ist, dass Deutschland im Falle der Bedarfsgerechtigkeit sogar insgesamt auf Platz sechs kommt. Das bedeutet, dass Deutschland denen, die besonders bedürftig sind, hilft und sie unterstützt, sodass sie nicht durch das soziale Netz fallen. Ein wichtiger Aspekt dürfte hierbei Deutschlands starker Sozialstaat sein, der mithilfe von Steuergeldern bedürftigen Menschen unter die Arme greift. Wenn man sich nun die Frage nach der Chancengerechtigkeit in Deutschland stellt, ist festzustellen, dass Deutschland hier bisher noch im Mittelfeld liegt – allerdings in den letzten Jahren mit einer deutlich steigenden Entwicklung. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Jugendarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich in Deutschland extrem gering ist und bei weniger als acht Prozent liegt. Neben der Jugendarbeitslosigkeit spielt natürlich auch die Frage der Bildung eine große Rolle. Die frühkindliche Bildung ist auch ein zentraler Aspekt, der bei der Frage nach Chancengerechtigkeit berücksichtigt werden muss. Insbesondere der Ausbau der Kindertagesstätten in den vergangenen Jahren und der Ausbau der Infrastruktur hat in Deutschland die letzten Jahre deutlich zugenommen. Dennoch gibt es immer noch viele Jugendliche, die sich kein Studium selbst finanzieren können und auch nicht auf Hilfe ihrer Eltern setzen können. Allerdings muss man in diesem Punkt zugeben, dass eine vollkommene Chancengerechtigkeit nicht realisierbar ist, da es viele Aspekte gibt, die von Menschen nicht beeinflusst werden können. Leistungsgerechtigkeit in Deutschland zu definieren ist deutlich schwieriger, da Leistung erst definiert werden muss und es außerdem auch auf die Wertschätzung der Leistung in der Gesellschaft drauf ankommt. Fakt ist nur, dass ein Manager im Vergleich zu einer Reinigungskraft doppelt bis vierfach so viel verdienen kann. Denn ein Manager hat eine deutlich höhere Verantwortung und Leistung, deshalb wird er auch besser bezahlt. Dennoch ist es schwierig, die Leistungen der einzelnen Berufe zu beurteilen und zu bewerten. Ein Problem der Leistungsgerechtigkeit in Deutschland ist vor allem aber der sogenannte „Gender Pay Gap“. Ein Beispiel dafür ist, dass eine Industriekauffrau im Schnitt zwanzig Prozent weniger verdienen als ein Industriekaufmann. Generationengerechtigkeit ist in Deutschland vor allem durch den Umweltschutz ein aktuelles Thema geworden. Die Aktionen der „Letzten Generation“ deuten darauf hin, dass die Bevölkerung sich für kommende Generationen einsetzt und ihnen gleiche Lebensbedingungen ermöglichen will. Auch die Wende zum Ausbau von erneuerbaren Energien ist eine Vorsorge für zukünftige Generationen. Dennoch gibt es genug Aspekte, die das Leben der folgenden Generationen beeinträchtigen könnten, wie zum Beispiel der hohe Verbrauch von Plastik oder der ein erheblicher Ausstoß von Treibhausgasen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Deutschland in vielen Bereichen schon ein gewisses Gerechtigkeitslevel erreicht hat, denn Deutschland ist vor allem in der Sozialpolitik sehr fortschrittlich. Auch das präsente Streben nach Umweltschutz ist ein gerechtes Handeln für die Zukunft. Dennoch muss man sich bei der Frage nach Gerechtigkeit immer bewusst sein, dass ein vollkommenes Gerechtigkeitsideal in einer Gesellschaft nicht realisierbar ist und somit auch kein Ziel für die Zukunft sein kann. Weiterhin ist jedoch wichtig, dass die Politik und auch jeder einzelne Bürger versucht, Gerechtigkeit herzustellen, sodass wir dem Ideal immer näherkommen.

Quellen:

https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-dimensionen-sozialer-gerechtigkeit-10602.htm

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/gesellschaftlicher-zusammenhalt/projektnachrichten/gerechtigkeitsempfinden-in-deutschland-2022

https://www.sozialpolitik.com/soziale-gerechtigkeit

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