Demokratie in Deutschland

(Und wie wir es besser machen können)

Wenn in 2 Jahren, am 26. Oktober 2025, die Wahllokale um 8 Uhr ihre Türen für die wichtigste Form der politischen Partizipation in Deutschland öffnen, dann ist es wieder so weit: es ist Bundestagswahl. Doch dieses Mal ist alles ein bisschen anders. Nicht nur wird über die Zukunft des SSW-Abgeordneten Stefan Seidler entschieden, sondern es ist auch die erste Wahl, bei der viele von unserer Generation das erste Mal ihre Stimme an der Wahlurne abgeben. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen und die Vorfreude. 

Doch anschließend wird auch vieles ähnlich sein, wie in den Jahren zuvor: AfD und Nichtwähler verbuchen aufgrund fehlenden Vertrauens in die Ampel-Regierung weitere Erfolge, es werden weiterhin breite Bevölkerungsschichten wie Frauen, sozial Benachteiligte und Menschen mit Migrationshintergrund nicht ausreichend repräsentiert sein und die jetzt schon vorhandene Polarisierung unserer Gesellschaft wird weiter zunehmen. Damit verbunden ist natürlich jene ungesunde Streitkultur, welche unserer Demokratie nur schaden kann. Hinzu kommt der oft kritisierte doch selten bekämpfte Lobbyismus, aber vor allem – und zwar nach jeder Bundestagswahl – dauert es erneut 4 lange Jahre bis man sich wieder politisch engagieren kann. Diese Pause ist für die vergleichsweise geringe politische Einflussnahme ziemlich lang, wenn man bedenkt, dass wir so oft auf andere Länder schauen und uns über deren Demokratien echauffieren. Kurzum: auch unsere Demokratie steht vor einigen Problemen.

Vielleicht sollte ich zuerst genauer auf den letzten Punkt eingehen: die Frage, warum die politische Einflussnahme so gering ist, denn eventuell liegt in ihr die Antwort auf alle zuvor genannten Probleme. Eine Entgegnung, die man häufig (vor allem von GK-Lehrern) auf diese Feststellung hört ist die, dass es doch gar nicht so sei. In Wirklichkeit gäbe es breite Angebote sich politisch zu engagieren: Man könnte beispielsweise in eine Partei eintreten, im Gemeinderat mitarbeiten oder für den Bundestag kandidieren. Natürlich sind alle diese Engagements möglich. Aber sind sie wirklich auch sinnvoll? Sich politisch engagieren bedeutet Dinge aktiv verändern zu wollen (ansonsten gäbe es ja keinen Grund dafür). Aus meinem privaten Umfeld kenne ich viele Menschen – vor allem junge Erwachsene – die sich gerne engagieren würden, aber es ihnen schlicht an Möglichkeiten fehlt: Ein Leben für die Politik (im Bundestag oder in Landtagen) ist ihnen ein zu großer zeitlicher Aufwand, ein Parteieintritt zu langweilig und zu wenig pragmatisch. Mitglied im Gemeinderat zu sein erscheint auf den ersten Blick wie die richtige Wahl, allerdings stellt man auf den zweiten Blick fest, dass auch hier kaum tiefgreifender Wandel möglich ist: man entscheidet über die Ausschreibung von Baugebieten, nicht über die ökonomische oder politische Zukunft Deutschlands. Doch warum eigentlich? Warum bauen wir dieses politische System der bürgernahen Politik nicht mehr aus? Wie wir sehen werden, könnte es die meisten oben genannten Probleme lösen und darüber hinaus noch einige weitere.

Demokratietheorie

Um es klarzustellen: Ich will nicht bestreiten, dass Deutschland eine Demokratie ist. Sie ist eine und sogar eine vergleichsweise gute. Was ich jedoch mit diesem Essay bestreiten will ist, dass unser Demokratie-Verständnis das Richtige ist. Denn Demokratie bedeutet nicht – wie es viele Menschen in Deutschland glauben – man müsse jedem nur die Möglichkeit anbieten, seine Repräsentanten zu wählen. Dieses Modell wäre nach Jean-Jaques Rousseau eine Wahlaristokratie: eine Gruppe an Herrschenden/Repräsentanten, die durch eine Wahl legitimiert wurden, wie beispielsweise der Bundestag. Demokratie bedeutet auch nicht das vage Versprechen, selbst Repräsentant sein zu dürfen. Demokratie bedeutet Entscheidungen zu treffen, die auf dem Mehrheitswillen basieren. Nicht das System, wie Entscheidungen getroffen werden sollte demokratisch organisiert sein, sondern die Entscheidungen selbst. Somit bedarf es keiner Repräsentanten, die die Meinung der Bürger repräsentieren, sondern es bedarf der Meinung der Bürger selbst. Dies wäre die theoretische Rechtfertigung einer bürgernahen Politik (Basisdemokratie) wie sie bereits in einigen Staaten wie Israel (Kibbuz), Schweiz, USA oder Venezuela umgesetzt wurde. Doch wie sieht es genau mit der Praxis aus? Unterstützt sie die obigen theoretischen Gedankengänge oder zeigt sie deren praktische Dysfunktionalität auf?

Bürgerhaushalte

Interessanterweise zeigen uns Beispiele aus aller Welt auf, dass ersteres der Fall ist: ein Staat mit basisdemokratischen Elementen funktioniert nicht nur, sondern ist darüber hinaus auch effizient darin ist, Probleme zu lösen. Eines der wohl unwahrscheinlichsten Beispiele davon ist die westvenezuelische Stadt Torres, deren Erfolgsgeschichte am 31. Oktober 2024 – einem Wahltag – begann. An diesem Tag wählten die Einwohner von Torres ihren Bürgermeister und sie hatten im Wesentlichen zwei Wahloptionen: Entweder sie wählten den amtierende Bürgermeister Javier Oropeza, den die kommerziellen Medien unterstützten, oder sie stimmten für Walter Cativelli, hinter dem die beliebteste Partei des Landes stand. Beide waren enorm einflussreich und standen für den politischen Status Quo der Stadt, bei dem eine korrupte Oberschicht weiter an der Macht bleiben würde. Doch dann war da noch Julio Chávez, dessen Wahlchancen marginal waren und dessen Wahlprogramm das komplette Gegenteil seiner Gegner war: Er wollte jegliche Macht des Bürgermeisteramtes direkt an die Bürger weitergeben. Auch wenn keiner wirklich an seinen Sieg glaubte – lediglich einige Studenten und Gewerkschaftsaktivisten unterstützen seinen Wahlkampf – geschah es dann doch ganz auf demokratischem Wege mit 35,6%: nicht Julio Chávez, sondern die Bürger von Torres wurden zu ihren eigenen Regenten.

Die demokratische Revolution begann mit hunderten Volksversammlungen zu denen alle Bürger der Stadt eingeladen wurden und in denen über den Haushalt der Gemeinde (Bürgerhaushalt) diskutiert wurde. Diese Form der politischen Partizipation wird häufig mit Basisdemokratie gleichgesetzt, wenngleich sie eigentlich nur auf die finanzielle Miteinbeziehung der Bürger beschränkt ist. Dennoch, waren es in der Stadt Torrez immerhin über 7 Milliarden Euro über welche die Bürger nun selbst entscheiden durften und mit denen die Bürger – entgegen allen Erwartungen – verantwortungsvoll umgingen: Wie eine Evaluierung der Weltbank ergab, wurde weniger Geld für prestigeprächtige Wohnprojekte ausgegeben und mehr Geld in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit investiert. Diese Entwicklung war zum Teil dadurch zu erklären, dass Korruption und Lobbyarbeit aufgrund der Basisdemokratie nur schwer möglich waren, zu einem anderen Teil aber aus dem einfachen Grund, dass Einwohner nun selbst ihre Bedürfnisse artikulieren konnten und so wirklicher Fortschritt möglich wurde. In den Worten von einem der Bürger ausgedrückt: „Aber wer, glaubst du, kann besser darüber entscheiden, was wir brauchen? Ein Beamter in seinem Büro, der noch nie in unserer Gemeinde gekommen ist, oder einer aus der Gemeinschaft selbst?“ Darüber hinaus schuf diese Form der offenen Entscheidungsfindung eine radikale Transparenz der Haushaltsverwaltung, auf die positive Begleiterscheinung folgten: Bürger begannen den Nutzen staatlicher Handlungen zu erkennen und forderten Steuererhöhungen, um die kommunalen Projekte zu finanzieren. Ein Effekt, den Politikwissenschaftler und Ökonomen bis dahin für unmöglich gehalten hatten.

Basisdemokratie in Deutschland

Nach dem Erfolg des Bürgerhaushalts in vielen südamerikanischen Städten verbreitete sich die Idee schnell über Grenzen hinweg bis in Städte wie New York oder auch Stuttgart. Hier werden beispielsweise bis heute Stadtviertel begrünt, der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und die Trinkwasserversorgung verbessert. Doch gerade bei diesen Haushaltsplanungen merkt man schnell, dass eine Basisdemokratie mehr sein könnte als ein Bürgerhaushalt. So werden häufig Forderungen vorgebracht, die sich nicht nur auf die Vergabe von Geldern beschränken, sondern auch Gesetzesinitiativen mit sich ziehen. Auf diese Weise könnten in Deutschland über einen Bürgerhaushalt hinaus auch die Gemeinderäte gestärkt werden und politische Veranstaltungen sowie Volksentscheide auf der Ebene der Bürgerinnen und Bürger durchgeführt werden. Prinzipiell gäbe es ein großes Spektrum an verschiedenen Ansätzen, wobei in den meisten Fällen lediglich bestehende Strukturen auf eine stärkere Integration der Bürger ausgelegt werden müssten. Doch auch wenn eine stärkere Einbeziehung der Bürger einen Mehraufwand bedeuten, zahlen sich diese basisdemokratischen Elemente aus: Da alle Bürger repräsentiert werden fühlen sie sich alle als Teil der Gemeinschaft und ihr Vertrauen in die Demokratie nähme wieder zu. Darüber hinaus würden Entscheidungen qualitativ besser, wenn sie direkter getroffen werden und pluralistische Perspektiven miteinbeziehen würden. Letztendlich – und das ist vielleicht einer der wichtigsten Punkte – würde eine Basisdemokratie die Streitkultur unserer Gesellschaft in Zeiten von Twitter und Co. nachhaltig prägen: Politische und parteiliche Gräben müssten überwunden werden, denn man muss sich mit dem Gegenüber auseinandersetzen und mit ihm Entscheidungen treffen. Ist das nicht die pure Bedeutung von Demokratie?

Was denkt ihr darüber? Schreibt eure Meinung gerne in die Kommentare 🙂

Quellen:

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