Anti-Anti-Semitismus in Deutschland

Berlin der 3.12.2023, 18:30

Es ist Samstag und ich befinde mich in einem israelisch-jüdischen Lokal, dem Masel Topf in Berlin. Es befindet sich im Prenzlauer Berg, ist sehr nett im 30er/40er-Jahrestil eingerichtet und es gibt hier köstliches jüdisches Essen. Dennoch – oder gerade deshalb – kommen in mir immer wieder Gedanken an Antisemitismus, Judenverfolgung zur Zeit der Nationalsozialisten und KZs hoch, auch wenn ich sie zu unterdrücken versuche. Nicht weil ich den bis jetzt schönen Abend mit diesen fürchterlichen Gedanken verderben will, sondern weil es mir unangenehm ist gegenüber dieser durchaus vielfältigen und reichen Kultur nur an eines zu denken: dass sie in der NS-Zeit eine unterdrückte Minderheit war. Doch wie, nach 3 Jahren gymnasialen Geschichtsunterrichts, indem diese Themen jedes Jahr erneut behandelt werden? Und wie, aufgewachsen in einem Land, in dem der Begriff „Jude“ nur im Zusammenhang mit Antisemitismus zu hören ist? Es ist fast so als wären diese beide Wörter in der deutschen Sprache zwei Seiten derselben Medaille, zwei Antonyme mit derselben Bedeutung: Singuläre Reduktion. Deutsche denken an den Holocaust, nicht an den Jom Kippur, sie denken an Karikaturen von Menschen mit überproportional großen Nasen aus dem Geschichtsunterricht, nicht aber an Gemälde von Liebermann (der jüdisch war). 

Gemälde von Liebermann

Natürlich kann diese Methodik Antisemitismus präventiv zu verhindern wirken und ich will mich in keinster Weise gegen die Behandlung des historischen Antisemitismus im Rahmen des Schulunterrichts aussprechen. Im Gegenteil: Ich bin der Auffassung, dass wir Fehler in der Geschichte der Menschheit betrachten sollten, um diese nicht zu wiederholen – es ist vermutlich auch jener Grund, warum Deutschland eine so erfolgreiche Demokratie besitzt.

Allerdings denke ich, dass wir diese Aufgabe falsch bewältigen. Denn geben wir dieser zerstörenden Kraft von Diskriminierung und Hetze nicht nur noch mehr Brennmaterial, indem Schüler die antisemitischen Vorurteile im Geschichtsunterricht lernen und teilweise Passagen aus „Mein Kampf“ (sogar ohne Kommentierung) lesen? Ich erinnere mich noch genau an das erste Arbeitsblatt zu Antisemitismus aus dem Religionsunterricht in der achten Klasse, auf dem uns, mit Bildern illustriert (z.B. ein reicher Jude auf einem Geldsack), die gängigsten Antisemitismus-Vorurteile erläutert wurden. Es war eine völlig neue Erkenntnis für mich, denn bis dahin war mir zwar bewusst, dass es den Holocaust gab, allerding wusste ich nicht, dass man damalige Vorurteile gegenüber Juden auch auf heute übertragen kann. 

Selbstverständlich kann es sinnvoll sein, antisemitische Vorurteile zumindest in höheren Klassen aufzugreifen und zu entkräften, aber ich denke nicht, dass dies der einzige Weg ist, um die Wiederholung von Fehlern in der Geschichte zu vermeiden. Denn wenn wir versuchen diese Vorurteile im Geschichtsunterricht zu entkräften, entkräften wir sie lediglich in ihrem historischen Rahmen. Dem Argument, die Juden hätten als wirtschaftliche Elite das „Deutsche Reich“ korrumpiert, halten wir beispielsweise entgegen, dass Juden damals zwar reicher waren (durch Betätigung im Banksektor), aber sie dadurch die Integrität Deutschlands nicht in Frage stellten. 

Leider verrät uns dieses Gegenargument jedoch nicht mehr, als dass es damals falsch gewesen wäre Antisemit aufgrund der Ausgangsthese zu sein (Ein moderner Antisemit würde sich dadurch wohl wenig hinterfragt fühlen). Wo ist hier der Lerneffekt – die Erkenntnisse mit denen wir besser gegenüber Exklusion in der Gegenwart und der Zukunft gewappnet sind? Es scheint mir als würden wir die Geschichte mehr aufgrund des bedrückenden Erbes Deutschlands aufarbeiten (und deshalb nur im Rahmen der NS-Zeit bleiben), als dass wir mit ihrer Bewältigung wirklich Wiederholungsfehler der Geschichte vermeiden wollen.

Abschließend – um konstruktive Kritik zu üben – stellt sich die Frage, wie wir es besser machen können, also wie wir besser Antisemitismus und Exklusion vorbeugen sollten. Meines Erachtens wäre es gar nicht so schwer: Um den Fehler, jüdische Kultur auf die NS-Zeit zu reduzieren zu umgehen, könnte man in verschiedenen Fächern wie Kunst und Religion auf die Vielfalt der jüdischen Kultur eingehen und gleichzeitig ihre Vernetzung mit der deutschen Kultur- (Bsp. Liebermann) und Sprachgeschichte (Einflüsse des jiddischen ins Deutsche) aufzeigen. Gleichzeitig aber sollte der Geschichtsunterricht die Judenverfolgung natürlich nicht ignorieren. Im Vergleich zum jetzigen Geschichtsunterricht sollten wir jedoch vielleicht mehr die Mechanismen hinter den antisemitischen Vorurteilen der der NS-Zeit genauer analysieren, um so mehr über das Wesen des Menschen zu erfahren und wie er so anfällig gegen jegliche Form von Hass gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen ist. Doch warum im Geschichtsunterricht nur das Negative betonen? Genauso könnte man doch auch die Sternstunden der Menschheit betrachten, um zwischen vielen Momenten der Mutlosigkeit im Geschichtsunterricht die Hoffnung auf ein besseres Morgen nicht zu verlieren. 

Quellen:

TipBerlin. Max Liebermann: Ausstellung und Intervention zum 175. Geburtstag. Aufgerufen am 23.06.2023. Verfügbar unter: https://www.tip-berlin.de/kultur/ausstellungen/max-liebermann-ausstellung-und-intervention-zum-175-geburtstag/.

1 Kommentar

Kommentieren →

Hallo Mittelscheitelmanfred.
Ich finde, du hast mit Deinem Essay ein sehr schwieriges, aber interessantes Thema herausgesucht.
Tatsächlich ist mir während des Lesens erst richtig klar geworden, wie sehr unser Blick auf das Judentum auf die NS-Zeit beschränkt ist.
Natürlich kann ich das nachvollziehen.
Der Nationalsozialismus in Deutschland hat, im Gegensatz zu anderen ehemals faschistischen Ländern (z. B. Spanien unter Franco), ein sehr starkes nationales Trauma hinterlassen. Die ganze Aufklärungsarbeit ist daher auch nachvollziehbar und meiner Meinung nach richtig. Aber mich beunruhigt es, wie wenig sensibilisiert manche (v. A. jüngere) Menschen der Vergangenheit gegenüber sind, die dann z. B. „aus Spaß“ Hakenkreuze auf Tische malen. Aber das ist ein etwas anderes Thema.
Die Frage, wann und wie man am besten über die Judenverfolgung und den Holocaust aufklärt, ist schwierig zu beantworten.
Ist es im aktuellen Bildungsplan zu viel? Nicht unbedingt.
Sollte man den Fokus mehr auf die jüdische Kultur und Geschichte ferner dessen richten? Ja, auf jeden Fall. Denn es wäre wirklich traurig für eine gesamte Religion, wenn sie ausschließlich auf das schlimmste Ereigniss in ihrer Geschichte reduziert würde.
Wahrscheinlich würde das Auseinandersetzen mit der Kultur, z. B. in der Schule, stärker gegen Antisemitismus wirken, als das alleinige Auseinandersetzen mit dem Holocaust, denn je mehr man über eine Kultur weiß, desto näher ist sie einem. Nochmal: Damit meine ich nicht, dass man diesen Teil der Geschichte weniger ausführlich behanden sollte, aber zum einen mit mehr Hintergrundwissen zum Judentum und zum anderen sensibler und wirklich ernsthaft, um Vorkommnissen wie oben genannt vorzubeugen.
Ich hoffe, niemandem vor den Kopf zu stoßen.
MfG, flea.

Schreibe einen Kommentar