
Erst vor kurzem stand ein Artikel über ein todkrankes Mädchen in der Zeitung. Ihr Name ist Pippa, sie ist 5 Jahre alt und lebt in Großbritannien. Sie leidet an einer akuten nekrotisierenden Enzephalopathie. Enzephalopathie ist ein Sammelbegriff für krankhafte Zustände des Gehirns. Auslöser war eine schwere Grippeerkrankung. Seit Januar 2019 liegt sie in einer Art Wachkoma und muss künstlich beatmet werden. Die Ärzte wollen nun nach fast zwei Jahren die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen, da sie sich sicher sind, dass die Hirnschäden irreparabel sind und keine Besserung des Zustandes mehr eintreten könne. Pippa könne kein Vergnügen mehr spüren, weshalb es für sie nutzlos wäre, weiter künstlich am Leben erhalten zu werden.
Doch ab wann ist ein Leben „nutzlos“ oder „sinnlos“? Wann kann man ein Leben als „lebenswert“ bezeichnen? Und vor allem wer entscheidet über diese Frage? Ich persönlich finde, dass es für diese Fragen nicht wirklich eine eindeutige Antwort gibt. Einige sind davon überzeugt, dass Behinderte kein lebenswertes Leben führen können, bzw. der Pflegeaufwand nicht im Verhältnis zur Lebensfreude des Individuum steht. Dies zeigt sich am Beispiel der Fruchtwasseruntersuchung, bei der der Fötus auf Trisomie-21 getestet wird und einige Eltern sich dann nach einem positiven Ergebnis oftmals für eine Abtreibung entscheiden. Andere finden es hingegen noch nicht sinnlos, wenn jemand schon jahrelang im Koma liegt, da immer noch ein Funken Hoffnung in den Angehörigen steckt. Ich finde, wenn man sich nur noch quält und auch keine positiven Emotionen mehr spüren kann, ist das Leben nicht mehr sehr lebenswert. Sind es nicht die Emotionen, die unser Leben prägen? Aber ich denke kein Außenstehender kann die Frage beantworten, ab wann ein Leben eines anderen Menschen nicht mehr lebenswert ist. Die Entscheidung für sich selbst zu treffen, ist etwas anderes, als die Entscheidung für eine andere Person zu übernehmen, da ich mir einfach nicht vorstellen kann, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich denke weder Ärzte, noch Eltern, noch Gott oder sonst wer, kann das wirklich entscheiden, denn es gibt immer pro und contra Seiten bei so einer unumkehrbaren Entscheidung.
Die Mutter hat 2017 schon ihren Mann verloren. Nun will sie wenigstens für das Leben ihrer Tochter kämpfen und zieht deshalb vor Gericht. Ihr größter Wunsch ist es, dass Pippa wieder zu ihr nach Hause kann: „Wenn es eine Möglichkeit für sie gibt, nach Hause zu kommen, dann ist es das, was Gott wollen würde.“ Um das zu ermöglichen, wären ein Luftröhrenschnitt und ein mobiles Beatmungsgerät notwendig. Ihre Hoffnung besteht darin, dass es in Zukunft neue Erkenntnisse in der Medizin geben könnte, die Pippa helfen würden.
Mich hat an diesem Artikel am meisten verwundert, dass die Ärzte in Eigenverantwortung die Geräte abstellen wollen und die Mutter deshalb vor Gericht zieht muss, um dies zu verhindern. In Deutschland wäre das nicht möglich gewesen, denn wir haben gelernt, mit schwer behinderten Patienten anders umzugehen. Bei uns entscheiden die Eltern oder Angehörige eines todkranken Kindes, ob es weiter am Leben bleiben soll oder nicht. Im Fall von Erwachsenen können dies auch Personen sein, die vom Patienten eine Generalvollmacht erhalten haben. In Großbritannien sieht das anders aus: In der Regel sind es die Mediziner, die entscheiden, was für das Wohl des Kindes am besten sei. Sie sind also davon überzeugt, dass sie besser entscheiden können, als die Eltern, was für das Kind am besten ist.
Zwar beraten die Ärzte in Deutschland die Eltern, jedoch können sie nicht ohne deren Zustimmung die Geräte abschalten. Es wird vermutet, dass hinter den Entscheidungskriterien der Ärzte nicht nur ethische Gesichtspunkte erörtert werden, sondern auch Fragen zur Kostenübernahme der lebenserhaltenen Maßnahmen, oder inwieweit die limitierten Ressourcen im Krankenhaus zur Entscheidungsfindung beitragen.
Eine klassische Krankenversicherung gibt es in England nicht. Das Gesundheitssystem wird vom NHS (nationalen Gesundheitssystem) organisiert. Dadurch hat jeder Bürger freien Zugang zu medizinischer Versorgung. Jedoch ist nicht genau definiert, welche Leistungen die Versicherungen wirklich übernehmen, es heißt nur, dass „Leistungen in dem Ausmaß zur Verfügung gestellt werden sollen, wie es erforderlich ist, um alle begründeten Anforderungen zu befriedigen“. Es ist also nicht mit der gesetzlichen Krankenkasse zu vergleichen, die wir in Deutschland haben. Hier ist es so, dass jeder Mensch krankenversichert sein muss. Dabei hängen die Beiträge vom Einkommen und von der Versicherung ab.
In Großbritannien übernimmt im Normalfall die Krankenkasse die Bezahlung der lebenserhaltenden Maßnahmen. Jedoch ist dies nicht zwingend immer so, es hängt von der jeweiligen Krankenkasse ab und der Genesungschance, die der Patient hat. Seit 2018 wurde beschlossen, dass sich bei Einigung zwischen Ärzten und Eltern, die Maßnahmen ohne Gerichtsbeschluss eingestellt werden dürfen. Sollte es nicht zur Einstimmigkeit kommen, müssen weiterhin die Gerichte darüber entscheiden. Vor diesem Beschluss durfte man nicht ohne richterliche Erlaubnis die Geräte abschalten. In Deutschland können Eltern von einem Gericht nur entmündigt werden, wenn sie ihrem Kind absichtlich Schaden zufügen wollen. Doch was passiert, wenn die Eltern die Behandlung, z.B. aus religiösen Gründen untersagen, obwohl ihr Kind eine Chance auf Heilung oder Besserung hätte? Dürften die Ärzte dann trotzdem das Kind behandeln? Wie das offiziell geregelt ist, ist mir nicht bekannt, doch ich denke mir, dass es in Deutschland den Ärzten dann untersagt ist, das Kind zu behandeln, zumindest wenn die Eltern ihrem Kind keinen eindeutigen Schaden zufügen wollen. Ich finde, dass ein Kind, vor allem wenn es die Chance auf eine Genesung hat, die Behandlung bekommen sollte, auch wenn die Eltern dagegen sind. Denn jeder hat ein Recht darauf zu leben.
Letztendlich stellt sich nun die Frage, wem eher die Entscheidung über Leben oder Tod des Kindes zustehen würde – den Eltern oder den Ärzten?
Im Gegensatz zu Großbritannien, dürfen Ärzte in Deutschland ohne Einwilligung der Eltern, die lebenserhaltenden Geräte nicht abstellen. Ich finde das gut so, denn die Eltern haben schließlich das Sorgerecht, also sollten sie auch entscheiden dürfen, wie lange ihr Kind behandelt wird. Es sollte das Recht aller Eltern sein, selber entscheiden zu können, was sie für richtig halten.
Bei einer gemeinsam getroffenen Entscheidung von Ärzten und Eltern die Geräte abzustellen, werden Eltern vermutlich eher damit klar kommen und ihren Frieden finden, als wenn fremde Ärzte das ohne ihre Einwilligung beschließen. Es wird dann sicherlich viele Eltern geben, denen es zwar bewusst ist, dass es keinen Sinn mehr hat die Geräte weiter laufen zu lassen, sie jedoch darauf bestehen, weil sie es nicht schaffen loszulassen.
Würden nur Ärzte entscheiden, wäre dies vermutlich eher eine Kosten/Nutzen-Entscheidung, als eine ethische ,da sie nicht den emotionalen und familiären Bezug zu dem Kind haben und ihnen deshalb das Abschalten der Geräte weniger ausmachen würde, als den Eltern. Nur ist es für jeden schwer vorstellbar, dass jemand anderes darüber entscheidet, ob das eigene Kind weiter am Leben gehalten wird oder nicht.
Ich denke dass es das Beste wäre, wenn Ärzte die Eltern beraten und auch Entscheidungsvorschläge darlegen, aber schlussendlich trotzdem die Eltern entscheiden dürfen, ob die Geräte an bleiben oder nicht. Durch das Gespräch kann den Eltern, denen der Abschied schwer fällt, bewusst gemacht werden, dass es z.B. eher eine Qual oder aussichtslos für das Kind ist. Vielleicht würde ihnen das doch die Augen öffnen und sie sehen ein, dass es besser für das Kind ist, die lebensverlängernden Maßnahmen zu beenden. Ist dies nicht der Fall und die Eltern sehen es nicht ein, ihr Kind gehen zu lassen, sollte diese Entscheidung ebenfalls akzeptiert und respektiert werden. Denn für keinen ist der Abschied leicht und ich finde, wenn die Möglichkeit besteht auf eine Besserung zu hoffen, sollte man dies auch tun dürfen, egal wie sinnlos es die Ärzte fänden.
Wenn ihr nun in der Lage der Mutter wärt, wie würdet ihr euch entscheiden? Würdet ihr auch für die weitere Behandlung kämpfen oder die Entscheidung der Ärzte hinnehmen? Kann man ein Menschenleben mit einer Kosten/Nutzen-Rechnung beurteilen? Wer darf sich überhaupt anmaßen über Leben und Tod eines anderen Menschen zu entscheiden?
Hier noch ein Video mit Beweggründen von Seiten der Mutter und den Ärzten, sowie ihre Geschichte.
Quellen:
London: Gericht soll entscheiden, ob schwerkranke Pippa (5) leben darf (rtl.de)
Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahmen ohne Gerichts-Plazet möglich (aerztezeitung.de)
Mädchen (5): Gericht muss über Leben oder Tod entscheiden | Wunderweib